Kunstmuseum Liechtenstein
Aus der Sammlung
Rütjer Rühle 25. Mai – 26. August 2012
Seit seiner Gründung zeigt das Kunstmuseum Liechtenstein die eigene Sammlung in regelmässig wechselnden dialogischen Präsentationen: Dialog heisst für das Kunstmuseum, die Werke in unterschiedliche Beziehungen zueinander zu setzen. Die Präsentationen, die in enger Verbindung zu den laufenden Wechselausstellungen stehen, diese ergänzen oder auch kommentieren, umfassen ideengeschichtliche, kunstgeschichtliche und grundlegende Lebensfragen.
Einführungstext von Dr. Friedemann Malsch, Direktor des Kunstmuseums
(Anmerkung des Homepage-Verwalters: Die Werke des Künstlers, auf die der Autor in seiner Einführung hinweist, konnten in den Ausstellungsräumen betrachtet werden; zum Teil sind sie oben abgebildet, sie sind auch in den Rubriken ʺÄltere Werkeʺ, ʺArbeiten auf Papier, Karton und Holzʺ und ʺNeuere Werkeʺ dieser Webseite einzusehen. Ebenso verweist der Autor auf Texte des Malers, die ausschnittsweise in der Rubrik ʺMedien - Videos und Texteʺ zu finden sind.)
Der 1939 geborene Rütjer Rühle lebt und arbeitet seit vielen Jahrzehnten in Vincennes bei Paris und in Ugijar in der Provinz Granada in Spanien. Seine Entwicklung als Maler folgt insbesondere in den vergangenen 35 Jahren konsequent einerseits der Auseinandersetzung mit Geschichte, woraus sich auch die Beschäftigung mit existentialphilosophischen Fragen ergibt, und andererseits der Frage danach, wie die Mittel der Malerei diese Themen verkörpern können. Das Kunstmuseum Liechtenstein hat im Jahre 2005, dank der grosszügigen Unterstützung durch die Ars Rhenia Stiftung, Vaduz, sowie der Gerda Techow gemeinnützige Stiftung, Vaduz, seine bedeutende Malerei-Installation Mühle (1997-2001) erwerben können. Doch auch in wichtigen privaten Sammlungen in Liechtenstein ist Rühle prominent vertreten. Die Sammlung der Contemporary Art Foundation, Triesen, befindet sich seit 2010 als Dauerleihgabe im Museum und mit ihr zahlreiche weitere Werke des Künstlers. Auch in der Sammlung der Mezzanin Stiftung für Kunst, Schaan, ist Rühle mit wichtigen Werken präsent wie auch in weiteren anonymen Sammlungen. Diese besondere Präsenz des Künstlers im Fürstentum Liechtenstein macht es möglich, sein Schaffen in einer Präsentation aus der Sammlung des Museums, erweitert durch einzelne Leihgaben, thematisch fokussiert vorzustellen.
Die Installation Mühle markiert eine thematische Wende im Werk Rühles. Seit Mitte der 1970er Jahre hatte er eine Maltechnik entwickelt, die den Einsatz und die Verarbeitung der Farbmaterie zu einem inhaltlichen Zusammenhang mit den Themen Erinnerung und Geschichte verband. Dazu bediente sich Rühle grosser Holzplatten, quer bzw. längs geschnittener Baumstämme, die er dick mit Farbpaste bestrich und auf die Leinwand drückte. Durch das anschliessende Abnehmen der Platten wurden einerseits die Konturen der Platten sichtbar, andererseits entstanden Abrissspuren, die den Gemälden, zusammen mit den intensiven Farbwerten, eine hohe emotionale Dichte verleihen. Mit dieser Technik entstanden auch die Werke Mühlsteine I (1990-93) und Mühlsteine II (1994- 95). Die runden Baumscheiben als Abdruckformen übernehmen in diesen Bildern die Funktion von Mühlsteinen, denen der Künstler eine sinnbildliche Funktion für den schöpferischen Prozess zuschreibt. Unter Anspielung auf die Biografie Rembrandts fasst er sie in folgendes Bild: „Der Sohn des Müllers zermahlt Pigmentklumpen zu Farbstaub, wählt sich ein Bindemittel und malt: Im Dunkeln lässt er Licht aufscheinen.“ Man kann diese Worte technisch und auch bildlich verstehen. In einer technischen Perspektive weisen sie auf die physikalische Tatsache, dass das Licht selbst nicht zu sehen ist, sondern erst durch seine Brechungen und Absorptionen in den Farben mittelbar sichtbar wird. In übertragenem Sinne scheint hier die Konzeption des Schöpfers auf: Auch er ist nicht selbst sichtbar, sondern offenbart sich durch seine Kreationen.
Auf einer noch abstrakteren Ebene sind die Mühlsteine auch ein Symbol für die Welt, die sich dreht und dadurch das Weltgeschehen in ihrer mahlenden Tätigkeit in der Geschichte verschwinden lässt. Diese Symbolik wird zum zentralen Thema der Installation Mühle. Dieser aus vier hängenden Leinwänden und einer Bodenleinwand bestehende Raum ist betretbar. Einmal eingetreten werden die Betrachterinnen und Betrachter mit kreisenden Strudeln in den Gemälden konfrontiert. Es entsteht ein Sog, der sich ständig im Kreis bewegt. Für dieses Werk hat sich Rühle intensiv mit zyklischen Ordnungen beschäftigt, sowohl im grossen Massstab (Planetensysteme, Jahreszeiten, Tageszeiten usw.) wie auch im konkreten Leben der Menschen (Blutkreislauf, Verdauung, Menstruation etc.). Auf den Rückseiten der Leinwände, also ausserhalb des Raumes selbst, sind zahlreiche seiner Quellen durch Notizen, Abschriften und Dokumente aufgebracht und können nachvollzogen werden. Entscheidend für die Mühle ist jedoch Rühles Auseinandersetzung mit Paul Celan. Dessen Weltbild ist ebenfalls zyklisch angelegt und tendiert deshalb zum Chaos, d.h. zum Weltuntergang, der wiederum die Voraussetzung für die Entstehung einer neuen Welt ist. Rühle selbst führt dies in einem zur Installation Mühle entstandenen Text detaillierter aus.
Dieses Thema hat Celan in einigen seiner berühmt gewordenen Gedichte behandelt, in denen es um die aus den Fugen geratene Welt geht, in der es keine (Werte-) Ordnung mehr gibt. Rütjer Rühle hat einige Gedichtbände Celans malerisch umgesetzt in eigene Bücher. Drei dieser Bücher sind hier versammelt: zu Zeitgehöft und Niemandsrose sowie dem Gedicht Engführung aus dem Buch Sprachgitter.
An ihnen lässt sich in eindrücklicher Weise Rühles geistiges Nahverhältnis zur gedanklichen Welt Paul Celans nachvollziehen. Auch hierzu wird ein eigener Text des Malers vorgestellt.
Einen besonderen Bezug zu Liechtenstein erhalten diese Werke durch den Umstand, dass der Sammler und Verleger Robert Altmann aus Vaduz in den 1960er Jahren verschiedene Texte Celans in seiner Edition Brunidor herausgebracht hat. Er war es auch, der Celan zu Lesungen nach Liechtenstein holte, die wiederum den entscheidenden Anstoss gaben zur Entwicklung einer eigenen liechtensteinischen Lyrik.
Nach der Jahrtausendwende hat sich Rühle stärker der Lichtthematik gewidmet, die bereits in den Mühlstein- Gemälden angelegt ist. Wichtige Anregungen hierfür lieferten u.a. Rühles häufige Wanderungen im Hohen Atlas, dem grössten Gebirge Marokkos. Das Diptychon Yeelen I (2005-06) ist ein früher Beleg dafür. Bereits der Titel weist darauf hin („Yeelen“ bedeutet in westafrikanischen Sprachen „Licht“), doch auch der deutliche Gelb-Schwarz-Kontrast lässt diese Thematik erahnen. Typisch für Rühle ist es nun, dass auch dieses Thema existentiell gedeutet wird. Er verweist ausdrücklich auf Albert Einsteins Diktum: „Für denjenigen, der auf einem Lichtstrahl reitet, hört die Zeit auf.“ Jenseits der physikalischen Regeln bedeutet dies auch den Tod. Bereits die Griechen der Antike kannten den Mythos, dass die Lichthaftigkeit der göttlichen Erscheinungen, würde der Mensch ihrer ansichtig, diesen unmittelbar tötete. Es ist deshalb folgerichtig, dass das relativ neue Werk Der Tod und das Mädchen (2009) in direkte Nachbarschaft zu Yeelen I gerückt ist. Rühle bezieht sich hier auf das Gedicht von Matthias Claudius, das auch für Franz Schubert die Vorlage für dessen Kompositionen zu diesem Thema war. Darin steht u.a.:
ʺVorüber! Ach vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh, Lieber!
Und rühre mich nicht an.ʺ
ʺGib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund und komme nicht zu strafen,
Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen.ʺ
Diese herzzerreissende Thematik ist eine Grundkonstante menschlichen Lebens, und zugleich führt sie dazu, dass die Menschen sich entwickeln, individuell reifen. Das Bild Strom (2003-11) handelt ebenfalls von dieser existentiellen Thematik, indem es die unwiederbringlich laufende Zeit behandelt. Dass jedoch die Menschen immer wieder neu reifen müssen, dass sie dabei Gefahr laufen, die Welt, auf der, von der und in der sie leben, zu zerstören, davon handeln die neuesten Bilder Rühles. Titelgebend ist ein berühmter Ausruf, den Shakespeare seinem Hamlet, der an der Welt verzweifelt, in den Mund legt: „The time is out of joint“ („Die Zeit ist aus den Fugen“). In diesen Bildern, in denen Rühle abermals eine neue Assemblagetechnik anwendet, durchdringen sich in fast chaotischer Weise Farbströme, Abrissspuren, eingeklebte Fotos von Opfern der Nazi-Herrschaft, Menschenhaare, Kleidungsstücke und wiederverwendete Elemente der Tätigkeit des Malers. Die bemerkenswerte Helligkeit dieser Bilder kontrastiert mit dem Dunkel ihres Themas und wird so zu einer grellen Momentaufnahme. Damit beschwören sie jene Fassungslosigkeit, die Hamlet bei der Erkenntnis der Welt überfiel, in einer mit dessen Ausruf vergleichbaren Lautstärke.
Diese Sammlungspräsentation wurde gemeinsam mit dem Künstler erarbeitet. Sie zeigt also nicht allein einen Ausschnitt seiner Werke in liechtensteinischem Besitz, sondern ist zugleich als Ganzes eine Schöpfung Rütjer Rühles.
Rede zur Sammlungspräsentation im Kunstmuseum Liechtenstein
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Kunstmuseum Liechtenstein
23. August 2012 Künstlergespräch
Rütjer Rühle
Es ist mir ein Anliegen, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Bevor ich Sie jedoch bitten werde, Fragen zu stellen, Gedanken zu äußern oder auch Vorbehalte und Einwände vorzutragen, will ich Ihnen einen Text vorlesen, den ich eigens für diese Gelegenheit erstellt habe.
Manches werde ich allerdings in diesem schönen hellen Saal nur unvollkommen vermitteln können, da hier kaum 1 Prozent meiner Arbeit zu sehen ist.
Themen
für meine Arbeit suche ich nicht. Sie stellen sich ein oder
drängen sich auf. Ich versuche jedenfalls, mir nichts zu
verbieten, weder stilistisch noch thematisch. Das, was man einen
eigenen Stil nennen könnte, muss sich im Lauf der Jahrzehnte von
allein ausbilden; man kann ihn nicht erzwingen. Im Gegensatz zu den
Frühentwicklern wie einem Massaccio
des Quatrocento gehöre ich sicherlich zu den Spätentwicklern.
Ebenso wie ich keine
Themen suche, so suche ich für diese auch keine Ausdrucksmittel.
Form und Inhalt stellen
sich gleichzeitig ein. Sie befinden sich in
stetiger Wechselwirkung. Sie sind ein Ganzes, und dieses Ganze fließt
aus dem Leben heraus. Ich liebe das deutsche Wort Notwendigkeit:
Was notwendig ist, wendet die Not. Schweres wird leicht ohne seinen
Ernst zu verlieren. Selbst Lustvolles, Lustiges kann sich mit
Gravität vermählen. Das ist das wunderbare „Paradox“
der Kunst. Kunst zerstört nicht; Kunst
ist versöhnend und aufbauend, selbst dann noch wenn sie anklagt,
selbst dann noch wenn sie „schwarz malt“ (ich
denke an die pintura negra dela quinta del sordo).
In dieser Hinsicht sehe ich einen grundlegenden Unterschied zwischen
Kunst und Naturwissenschaft und selbst einem Teil derjenigen
Wissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen: Früher oder
später werden Teile ihrer Erkenntnisse zur Vernichtung und
Zerstörung angewendet. Selbst wenn der Künstler am Rande
der Verzweiflung steht, bei der Geburt seines Kunstwerkes ist immer
Lust im Schmerz. Paul Celan
sagt: „Schwerer werden, leichter sein.“
Die Thematik zu dem
Shakespeare-Zitat „The time is out of
joint“ kam mir bei der Arbeit an der
Mühle. Die Mühle ist ein archaisches
Bild des Planeten Erde, unserer Welt:
„Hamlet,
in der isländischen Legende ursprünglich Amlodhi genannt
ist identisch mit dem Eigentümer einer sagenhaften Mühle,
die zu seiner Zeit Friede und Reichtum hervorbrachte. Später,
als die Zeiten schlechter wurden, mahlte sie Salz; und heute
schließlich, nachdem sie auf den Grund des Meeres gesunken ist,
zermahlt sie Steine zu Sand und lässt einen riesengroßen
Strudel entstehen … Diese Vorstellung entspricht ganz
offenkundig einem astronomischen Prozess, nämlich dem der
säkularen Verschiebung der Jahrespunkte entlang dem Tierkreis,
wodurch die Weltalter bestimmt werden … Der Einsturz der
Mühle wird durch die Verschiebung der Weltachse
verursacht …“ (Giorgio de
Santillana und Hertha
von Dechend: Die Mühle des Hamlet)
Die beiden Mägde des Geschlechts der Riesen, die als einzige die
riesige Mühle bedienen können, verwandeln alles. Sie
zermahlen Korn zu Mehl, und wie das Meer zermahlen sie Felsen zu
Sand. Nichts geht verloren. Dieses kreisförmige Zermahlen, bei
dem es weder Anfang noch Ende gibt, erinnert an die ewige Wiederkehr
des Gleichen (Friedrich Nietzsche).
Diese zyklische, reversible Zeit tragen wir auch in uns solange wir
leben: Blutkreislauf, Verdauung, Menstruation . . . Wir erleben sie
in Tag und Nacht und im Wechsel der Jahreszeiten. „Wir
wissen heute, dass planetarische Systeme nicht unbegrenzt bestehen
können“ (Henri Poincaré).
Zyklische Systeme sind nur Warteschleifen im
großen Strom der irreversiblen Zeit, der sich in ungezählten
Gabelungen, die grundsätzlich unberechenbar, also unvorhersehbar
sind, ergießt (Friedrich
Cramer). „Ach,
und in demselben Flusse schwimmst du nicht zum zweitenmal.“
(Goethe, Heraklit)
Die kosmischen und planetarischen Zeitabläufe sind für unsere
historischen und biologischen Zeitläufe wenig relevant. Mit „the
time is out of joint“ reagiert Hamlet
auf den Königsmord, den seine Mutter und sein Oheim an seinem
Vater begangen haben. Ihre Gewaltherrschaft ist auf Lüge und
Verbrechen gegründet. Verbrechen und Lüge sind auch in
unserer Gegenwart (David Ray Griffin). Zwei simple Wahrheiten, die von den Mächtigen
so gut wie nie beachtet werden, haben immer Bestand:
Auf Lüge lässt sich keine gültige Ordnung unter den
Menschen gründen. Und ein Verbrechen ist ein Verbrechen, gleich
wer es begeht.
Die größte Gefahr für das Leben auf unserem Planeten geht vom Menschen aus.
Der Satz „the time is out of joint“ bewegt mich so
sehr, dass ich inzwischen viele Arbeiten so genannt habe.
Früher arbeitete ich viele Jahre lang mit Abdrücken, erst mit der Hand, dann mit Marmorbruchstücken und schließlich mit großen Holzscheiben. Das Zerquetschen der mit Farbe belegten Holzplatten auf der Leinwand hat etwas Gewaltsames an sich. Mag sein, dass die Kriegserlebnisse der frühen Kindheit mit hineinspielen. Das Aufnehmen der Matrizen von der liegenden Leinwand lässt eine ganz bestimmte Abriss-Struktur zurück, die ganz andere Vorstellungen hervorrufen als das Zerquetschen: Nämlich etwas Zerklüftetes, etwa wie eine Erosionslandschaft von oben gesehen, z.B. die Oberfläche eines fernen Planeten, ja manchmal etwas Zerstäubtes, in dem sich die Lichtpartikel gleichsam fangen lassen. In neuester Zeit arbeite ich auf alten Druckleinwänden, übermale sie und mache etwas ganz Neues daraus. Die Abriss-Struktur ist aber immer noch erkennbar und bedeutsam. In diesem Saal sind zwei dieser Bilder zu sehen; sie stammen aus diesem Jahr und gehören zusammen.
Der
Sohn des Müllers zermahlt Pigmentklumpen zu Staub, sucht sich
ein Bindemittel und malt: Aus der dunklen Leinwand lässt er
Licht aufscheinen. Rembrandt ist ja in der
Mühle seines Vaters aufgewachsen.
Licht ist für den Maler nicht
Thema, es ist sein ureigenes Element –
etwa so, wie Töne und Resonanzen das ureigene Element des
Musikers sind.
Natürlich entwickelt
jeder Maler seine eigene Art, mit dem Licht umzugehen. Ich denke an
die großen fast einfarbigen Flächen bei Piero
della Francesca. Aber ich denke auch an das
geheimnisvolle Sfumato bei Leonardo da Vinci.
Licht kann man nicht
sehen, aber es macht sichtbar. Ein
Lichtstrahl wird sichtbar im tanzenden Staub. „Wo Licht auf
Dunkelheit trifft, entfaltet sich Farbe. Insofern sind Farben das
Produkt der größten Polarität, die unser Universum zu
bieten hat.“ (Arthur Zajonc)
„Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden“ sagt
Goethe. Zu Beginn von Faust II heißt es
„Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“. Und in seiner
Farbenlehre sagt Goethe:
„Spaltet immer das Licht! Wie öfters strebt ihr zu
trennen, was euch allen zum Trutz Eins und ein Einziges bleibt“.
So nehmen Künstler wie Goethe den
holistischen Ansatz vorweg, den wir uns - seit etwa 100 Jahren - erst
langsam und mühsam durch die Erkenntnisse der Quantentheorie zu
eigen machen: Das Ganze ist mehr als die Teile, aus denen es besteht!
Alles in Einem und Eines in Allem. Das habe ich von Paul
Cézanne gelernt, der mich
vor 40 Jahren nach Frankreich gezogen hat
(vom Käse und Wein abgesehen).
Nichts
in der Welt ist so geheimnisvoll wie das Licht.
Das Licht, das innere wie das äußere, kommt uns vom
Ursprung her. Licht ist auch in uns. Man spricht heute von Biophotonen
(Fritz-Albert Popp). Licht kann man nicht wiegen
(Photonen haben keine Ruhemasse). Licht erfüllt Räume, ist überall,
nicht lokalisierbar, azeitlich. Licht ist transzendent, reine Strahlung,
reine Energie, die schon existierte, bevor es Materie gab. Die Strahlung
aus den Anfängen des Universums, aus einem Plasma befreit und unterwegs seit
einer Zeit, in der sich gerade Atome gebildet hatten
(Rekombinationsphase in der Geschichte des Kosmos), erreicht uns
heute aus allen Himmelsrichtungen. Diese kosmische Hintergrundstrahlung ist
also „ältestes“ Licht (in Wirklichkeit kann Licht nicht altern);
es stammt von einer „Oberfläche letzter Streuung“.
Jede Sternexplosion ist gleichsam ein Brennpunkt des gesamten Kosmos, in
ihr wird Leben im Tod erzeugt.
Reine Strahlung, reine Energie ist ebenso Singularität wie
absolute Dichte, absolute Schwerkraft – das Schwarze
Loch. Leben – auch unser Leben –
spielt sich zwischen diesen beiden Singularitäten ab, wie
zwischen Polen. In dieser Spannung vollzieht sich unser Leben. Die
„diesseitige Welt“ des Menschen wird nach „oben“
begrenzt durch den Welthorizont,
der aus der kosmischen Expansion erwächst, nach „unten“
durch den Schwarzschild-Horizont:
Licht kann uns aus dem Äußeren des Welthorizontes nicht
erreichen, weil dort die Expansion so schnell erfolgt, dass es
mitgerissen wird (es hätte bei der
endlichen Lichtgeschwindigkeit auch gar nicht die Zeit gehabt, bis zu
uns zu gelangen); Licht kann aus dem Inneren
des Schwarzen Lochs nicht entweichen, da ungeheure Gravitation es
zurückwirft. Licht und Schwere
sind die beiden physikalischen Grundprinzipien, die nicht nur das
ganze Universum in Gang halten, sondern auch – symbolisch –
unser Seelenleben primär bestimmen (oben, unten, licht, dunkel,
leicht, schwer).
Wir wissen heute, dass die uns bekannte Materie - die baryonische - einen
sehr geringen Teil der Schwerkraft ausübenden Materie im Kosmos
ausmacht. Unter dieser stellt die Biomasse wiederum einen gar
winzigen Teil dar. In meinen Bildern arbeite ich gerade mit dieser
organischen Materie
(Dafna, Agaven, Chumbos, menschliche Haare) und verflechte sie in
einem vibrierenden, farbigen Gewebe, das den Eindruck von Energie
erwecken kann.
Kurt Gödel konnte zeigen, dass es in jedem mathematischen System, das reichhaltig genug ist, wenigstens die Arithmetik zu beschreiben, Wahrheiten geben kann, die nicht beweisbar sind. Damit ist ein Beweis der Widerspruchsfreiheit für die Mathematik als Ganzes unmöglich (Thomas Görnitz). Bedeutet das etwa, dass sich hinter jedem System ein weiteres, anderes verbirgt? Das Gegensatzpaar „Transzendenz / Immanenz“ scheint mir immer weniger eindeutige Bedeutung zu haben. Vielleicht ereignet sich unsere Welt in einem Geflecht von verschiedenen Systemen.
Seit
etwa vier Jahrhunderten hat sich im Abendland ein gar zu starrer
Dualismus von Geist und Materie entwickelt,
der zu einer naturalistischen Ideologie führte und den Menschen
in eine gefährliche Sonderstellung brachte. Als einziges
Geist-begabtes Wesen (Gottähnlich) maßt er sich eine
machistische Haltung an, mit dem Anspruch alles zu beherrschen, alles
zu besitzen und über alles zu verfügen. Im Rahmen der
Globalisierung droht diese von Europa ausgehende Herrschaftsideologie
die ganze Menschheit zu erfassen (Philippe
Descola). Der Mensch manipuliert große
Bereiche des Planeten, zum Beispiel die Ionosphäre, und läuft
dabei Gefahr, das Ganze und somit sich selbst zu zerstören
(Geo-Engineering, Elektromagnetische Waffen,
HAARP, - Rosalie Bertell).
Es ist höchste Zeit,
dass wir umdenken lernen und bescheiden werden, bevor es zu spät
ist.
Manche Schlagwörter machen deutlich, wie stark wir immer noch einem mechanischen Weltbild verhaftet sind: Ich denke an die Ideologien des Fortschritts und der Superlative z.B. die Miss World-Wahlen); was den Kunstbetrieb betrifft, wäre die Ideologie des Avantgardismus zu nennen – ein Ausdruck, den uns das militärische Denken beschert hat. Es handelt sich dabei um eine Art von Kult des Neuen „auf Teufel komm raus“ (als ob es nicht auch neuen Blödsinn gäbe). Der Kult des Neuen gehört zur Konsumgesellschaft.
Neue
Erkenntnisse, die aus der Quantentheorie, Astrophysik, Kosmologie,
Chemie, Biologie, Neurologie, Ethologie, … zur Verfügung
stehen, können uns helfen, sinnwidrige Vorstellungen über
Bord zu werfen. Einige Begriffe und Inhalte, die aus den genannten
Wissenschaften stammen, haben unser Weltbild verändert und
können, meine ich, für die Kunst nicht ohne Folgen bleiben:
Ich denke vor allem an die Holistik.
Ich denke weiter an die fundamentale
Heissenbergsche Unbestimmtheit (die
natürlich nichts mit Ungenauigkeit zu tun hat);
ich denke an die Relativierung von Subjekt und
Objekt, an die Relativierung
kausaler Zusammenhänge, an die
Relativierung des Realitätsbegriffs, an
die Nichtlokalität
und schließlich an die Diskontinuität.
(Natürlich haben Künstler schon seit
langem „holistisch“ gearbeitet. Dazu eine Anekdote: Paolo
Veronese zeigte auf den Staub am Boden und sagte „mit dieser
Farbe kann ich die frische Haut einer jungen Frau hervorzaubern, wenn
ich nur alle anderen Farben darum herum entsprechend wähle.“)
Zur Diskontinuität
will ich ein Beispiel bringen. Früher sagte man „die Natur
macht keine Sprünge“. Also die Leere, den Riss gibt es
nicht. Nun gibt es eine verblüffende Stelle im unvollendeten
Finale der 9. Symphonie von Anton Bruckner.
Es handelt sich um drei Töne in einem Hornsolo, die nach
Nikolaus Harnoncourt
„nirgends hinführen“. Harnoncourt
betont, dass bei dieser Stelle nichts fehlt,
sie ist völlig konsequent auskomponiert. (Beim ersten Spielen
dieser Stelle soll der Hornist gesagt haben „Ja, das gibt’s
doch gar nicht …“, und Harnoncourt
fügte hinzu: „Bei einem Genie gibt es eben Dinge, die es
nicht gibt“.) Wie Harnoncourt
sagt, handelt es sich bei dieser Stelle um einen Riss. Das ist eine
Musik, die nicht mehr zum Weltbild eines Descartes
oder Newton passt.
Aus der Fastsymmetrie der Urzeit verschwinden 1 Milliarde Materie-Elementarteilchen beim Zusammenstoß mit 1 Milliarde Antimaterie-Teilchen in Lichtblitzen, und ein Materie-Elementarteilchen bleibt übrig: Deshalb gibt es Galaxien, Sterne, Planeten und uns. Ohne Asymmetrie gäbe es keine Erde und kein Leben. Die gewordene Asymmetrie ist Teil der immerfort sich ereignenden Schöpfung. (Vollständiges Gleichgewicht wäre der Tod.) Das Quantenvakuum von der Ausdehnung einer Planck-Länge (≈ 10–35 m), in dem energiegeladene Fluktuationen von entstehenden und vergehenden Teilchen herrschen, wo Quantenwelt und relativistische Welt notwendigerweise zusammenfallen, findet sich nach neuesten Erkenntnissen in Biophysik / Theoretischer Physik im interatomaren Bereich, – überall, auch in uns (Stuart Hameroff, Roger Penrose).
Evolutionen
sind nicht-lineare, grundsätzlich komplexe, hoch rückgekoppelte
und daher unvorhersehbare Prozesse (Friedrich
Cramer). Das gilt insbesondere für
lebendige Entwicklungen, und dazu gehört der schöpferische
Prozess.
Wenn
im Verlauf eines Arbeitstages im Atelier sich nicht irgendeine
Überraschung ereignet, wenn sich nichts Unvorhergesehenes
einstellt, nichts, was mit Zweifel und Schmerzen, aber auch mit Lust
und Freude einherginge - , wenn also nichts Neues geschieht, dann ist
der Arbeitstag eben nur ein grauer Fleißtag gewesen (solche
Tage muss es natürlich auch geben). Das
besagt nicht, dass der Künstler kein Vorhaben, kein inneres
Gesicht in sich tragen solle: Eine werdende Mutter trägt ihr
Kind in ihrem Leib, sie spürt es sehr wohl, aber sie kennt es
noch nicht. Einen Plan ausführen heißt im Französischen
„Exécuter un projet“; ins Deutsche zurückübersetzt
würde das lauten: „Ein Vorhaben abmurksen, hinrichten“!
Ich bin bestrebt, Arbeitshaltungen und Arbeitsprozesse, die widersprüchlich erscheinen, sich gegenseitig durchdringen zu lassen.
Da gibt es ein hohes Gerüst im Atelier. Unten auf dem Boden liegt die sorgfältig vorbereitete Leinwand, die Ränder umgeschlagen für das spätere Aufspannen auf den Keilrahmen. Das Format der Leinwand muss zu dem ungeborenen inneren Bild in einem guten Verhältnis stehen.
Lange, kontemplative Entwicklungsphasen − die vielerorts und zu jeder Zeit stattfinden können, sei es oben auf dem Gerüst oder nachts im Bett oder beim Schwimmen − wechseln ab mit spontan improvisierten Eingriffen und Handeln im Bild.
Mitten im Feld des Bildes mit schnellen oder langsamen Bewegungen, manchmal fast wie im Rausch. Und immer wieder folgt der Riss, das Aussteigen, das Abstandnehmen auf der Leiter oder gar die Flucht aus dem Atelier.
Während dieser ganzen Zeitstrecke sollte nicht über das werdende Bild gesprochen werden: Nichts zerreden, denn die ausgesprochenen Gedanken zerschneiden, legen fest und schließen Möglichkeiten aus.
Der Maler greift ein, darf aber doch nicht zu viel dazwischenkommen. Das Bild, es ist jedes Mal das letzte, soll reifen.
Abschließend soll ein einfaches Beispiel, das ich teilweise Henri Matisse entlehne, den holistischen Schaffensprozess erläutern:
Ein Maler wählt sich
eine bestimmte weiße Leinwand (das Format, die Gewebestruktur,
ihre Helligkeit , all das
spielt eine Rolle). Nun befleckt er sie mit einem gelben Klecks einer
bestimmten Ausdehnung und Intensität.
(Goethe nennt sieben Attribute der Farbe.) Was
ist geschehen? Der Maler sieht nicht nur einfach einen gelben Fleck
auf einer weißen Leinwand, sondern er entfacht eine Art von
Vibration zwischen dem Gelb und dem weißen Feld. Fleck und Feld
stehen in Wechselwirkung. Dabei bewirkt der nachträglich
hinzugefügte Fleck eine völlige Verwandlung der
Ausgangssituation, sprich der weißen Leinwand; rückwirkend
wurde sie verändert. Kommt nun ein drittes Element hinzu, z.B.
ein blauer Fleck, so wird die Sache schon komplex. Es entsteht eine
Art von Resonanz zwischen der wiederum durch Rückkopplung
veränderten Leinwand, dem gelben und dem blauen Fleck. Käme
nun noch ein roter Tupfen hinzu, so könnte es einem bereits
schwindlig werden.
Das bedeutet natürlich
nicht, dass inzwischen ein Kunstwerk entstanden sei. Das Beispiel
veranschaulicht jedoch, dass es sich bei kreativen Prozessen um
ganzheitlich rückgekoppelte Entwicklungen handelt, die auf
Wechselwirkungen beruhen: Das Ganze ist wesenhaft mehr als die Summe
seiner Teile (was durch Quantentheorie
bekräftigt wird). Im Arabischen beginnt der Plural nicht wie bei
uns mit der Ziffer „2“, sondern mit „3“. Das
himmelsmechanische „Dreikörperproblem“, die Bewegung
von drei sich gegenseitig anziehenden Körpern zu berechnen, ist
nicht mehr allgemein streng lösbar; erst recht nicht lässt
sich ein System von mehr als drei Körpern deterministisch
erfassen (Poincaré). Die Malerin oder
der Maler sollte nicht nur agieren, sondern auch reagieren. Er oder
sie sollten produktiv und rezeptiv zugleich sein, sie sollten fähig
sein, immerfort neu zu entscheiden. Sie müssten gleichsam das
Gras wachsen hören können. Der Mensch müsste spielen
können, wenn er schöpferisch ist.
Friedrich Schiller
sagt im 15. Brief der Ästhetischen Erziehung des Menschen: „
. . . Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll
nur mit der Schönheit spielen. Denn, um
es endlich auf einmal herauszusagen, der
Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist,
und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.
Nun ist das Wort „Schönheit“ gefallen.
Ja, so wie es sich in der
Philosophie um Wahrheit, in der Wissenschaft um Erkenntnis handelt,
so geht es in der Kunst um Schönheit! Auch heute noch, nach
Auschwitz; (damit würde ich Theodor W.
Adorno widersprechen). Aber um welche Art, um
welchen Begriff von Schönheit kann es da gehen? Sowenig wie man
das Menschsein definieren kann, so wenig lässt sich all das
definieren, was sich direkt, wie Liebe oder Kunst aus dem Leben
ergießt.
Dichter definieren nicht.
Sie treffen aber mit ihrer Kunst des Wortes das Wesentliche. –
So schließe ich heute mit den berühmten Zeilen aus der
ersten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke:
„Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.“